Die Ankunft in der Voliere und auf dem Mars

Zwar schreitet wohl auch heute die Metamorphose meiner Frau voran, aber ich kann durch Beobachtung auch wieder viel lernen. Ich ahnte schon, dass es keine gute Idee ist an Qualität zu sparen, hatte ich mir doch vor ein paar Monaten verschiedene Paare Hausschuhe geleistet, aber die teuren Marken erfolgreich umschifft. Der Preis den ich dafür zahlte, waren wunde Stellen an den Füßen und keinerlei Wohlbehagen. Heute kam nun das ersehnte Hühnerhaus meiner Frau via Bote. Es ist eine Art Fertighaus, das in die überdachte Voliere hinter dem Volierendraht gehört, die Ruhe- und Schlafstätte der Hühner. Euphorisch packte meine Frau die beiden flachen Kartons aus, ärgerte sich über gespaltene Hölzer, schlechte Verarbeitung und den traurigen Gesamteindruck. Schnell hat sie eine digitale Bewertung des Versenders vorgenommen, sich gegen die Rücksendung entschieden und ist nebst Hund ins Tauwetter hinausgestürmt, um zu reparieren, was zu reparieren ist und zusammen zu bauen, was zusammenzubauen ist. 

 

Überhaupt geht meine Frau darin auf, den Hühnern ein behagliches Heim voller Luxus zu schaffen. Herzförmige Solarlämpchen laden bereits auf den Wohnzimmertisch durch, um dem Geflügel dann ein warmes Nachtlicht zu bereiten. Eine digital gesteuerte Solarklappe übernimmt die Funktion des Schließers für das Haus im Haus. Auch die Hühnerwelt ist viel moderner, als ich glaubte. Begann mein Leben noch in einer Welt mit Wählscheibe und Hammertastatur, konnte ich irgendwann ein Fax mit Thermopapierdruckerrolle bedienen, wurde ich noch vor der Jahrtausendwende von Nullen und Einsen überrollt. 

 

Nullen war ich gewohnt, sie waren überall, sogar bei den Grünen, die eine teure Fahrradbrücke direkt neben einer Fußgängerbrücke über einen Kanal bauen ließen, sie saßen aber besonders bei Banken, manchmal am Schalter, oft im Vorstand, sie wurden Schmarotzer, also Makler oder Versicherungsvertreter und wenn sie nicht so gut in der Schule gewesen waren wurden sie Gebrauchtwagenhändler. Heute kann man sie sogar als einzig sichtbares Organ der neoliberalen Speerspitze FDP bewundern, wo sie mit gepflegtem Haarimplantat nebst Dreitagebart immer Sätze sagen, die rückwärtsgerichtet mit hätte beginnen. Eine liebe Freundin führt bei solchen Sätzen immer die Fahrradkette ins Feld, ein Sprichwort, das ebenso sinnfrei ist, wie erwähnte Speerspitze. Die Speerspitze hatte mich vor einigen Monaten zu großem Kefirkonsum verleitet, als sie meine ungeteilte Aufmerksamkeit mit einem Salto mortale in einem Bundesland der ehemaligen sowjetisch besetzen Zone erlangte. Dort hatte sich eine Art gescheiterter Gebrauchtwagenhändler seiner Partei mithilfe der Fraktionen schwer beschädigter Nullen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Die Speerspitze gratulierte, um einen Tag später zu verkünden, nicht gratuliert zu haben. Ich hatte Bauchschmerzen und vor allem keine Hühner, die mich vom Geschehen in die Realität zurückholen konnten.


 

Allerdings hat meine Frau mich nun auch aufgeklärt, dass den Hühnern vielleicht doch nicht vollkommene geistige Gesundheit zu unterstellen ist. So gibt es dort offensichtlich schizophrene Rassen, die nicht wissen, was oder wer sie sind. Zwar erkennt die Holsteiner Möwe, dass sie ein Vogel ist, ist aber eben doch ein Huhn. Noch schlimmer aber hat es das deutsche Lachshuhn getroffen, weder Fleisch noch Fisch sozusagen, und doch eben nur ein Huhn. Zur Beruhigung und um meine ungehemmte Vorfreude aufrecht zu erhalten, sage ich mir, dass die Hühner sich möglicherweise in ihrer eigenen Sprache gar nicht so nennen und auch nicht wissen, welche Respektlosigkeit sich der Mensch da ausgedacht hat. Schwer kann ich mir vorstellen, dass die Population der Hühner solche Nullen sind. Aber ich habe ohnehin seit etwa meinem 25. Lebensjahr Probleme mir die Welt der Nullen und Einsen so richtig zu eigen zu machen. Anfänglich war ich sowas wie der fleischgewordene Absturz und inzwischen hat mich die Technologie mehrfach überrundet. In sozialen Medien begegnete ich gefühlt der wahren Demokratie, der ungebremsten Meinungsfreiheit, dann zunehmend der Stimme des Volkes, ungeprüften Wahrheiten, sogenannten alternativen Wahrheiten, Fake News und schließlich immer häufiger einem Algorithmus, der mich vor all dem zu schützen schien, indem er mir Gitarren, Schallplatten und Füller anbot, bisher keine Hühner. Allerdings gucke ich auch schon länger nicht mehr hin, weil ich sonst oft so viel Kefir brauche. 

 

Ein beunruhigender Aspekt dieser besonderen Welt der Nullen und Einsen war, dass sich so viele Menschen offensichtlich in einer Art second life befanden und meinten, sich outen zu müssen. Nicht das klassische Outing, bei dem man der Welt seine sexuelle Orientierung mitteilt und dann auf neue Freiheiten hofft, wie etwa die Möglichkeit, in einer der schwulen- und lesbenfeindlichsten Organisationen, die man sich vorstellen kann, den Bund fürs Leben zu schließen. Nein, es outeten sich Musiker als Realitätsverweigerer, Coronaleugner, Südstaatenflaggenträger, proud boys und Figuren, die in Burt Reynolds Film Deliverance Banjo spielen. Keine Ahnung, ob es in diesem Film Hühner gab, aber wenn, dann wären sie sicherlich nicht gut weggekommen.
 Am wenigsten aber bin ich einem Aspekt der Digitalisierung gewachsen: Wie kann es sein, dass es eine funktionierende Welt ohne gab? Und wie kann es sein, dass die Weltwirtschaft von Betrieben bestimmt wird, die keine irgendwie greifbare oder notwendige Produktion haben, keine Produkte? Ist Illusion ein Produkt? Sind digitale Videospiele relevante Produkte? Von meinen ersten Computern habe ich das Schachspiel, Solitaire und Patience und irgendwelche PacMan-Varianten noch eiskalt gelöscht, weil ich den Platz für meine Magisterarbeit brauchte. 

 

Natürlich ist mir der Wert von Brot und Spielen bekannt. So konnte ich als Jugendlicher stundenlang zusehen, wie der Schwede Björn Borg den Stadtneurotiker McEnroe mit langen Topspinschlägen in den Wahnsinn trieb oder wie Sepp Meyer ein Huhn, nein eine Taube im Strafraum jagte. Dabei dachte ich nicht über die Matheklausur des Folgetages nach und auch nicht über die Hausaufgaben in anderen unbedeutenden Fächern. Ich lernte für meine Karriere, trug die Ideen auf den Fußballplatz, wo ich an krummen Füßen scheiterte und auf den Tennisplatz, wo der Trainer sagte „Du bewegst dich wie eine Gazelle oder wie heißt das Tier mit dem Rüssel?“ Weitaus weniger Anschauungsmaterial gab es damals zu meiner eigentlichen Bestimmung in der Glotze, Tischtennis. Und leider war ich da auch besonders von einem ewigen Dritten beeindruckt, so dass ich den Durchbruch einfach nicht schaffen konnte. Wer orientiert sich schon an Verlierern? Liang Geliang war mein Favorit. 

 

Wer sich Weltklassetischtennisspieler ansieht kommt aber nicht umhin, die große Ähnlichkeit in deren eckigen Bewegungen zu Hühnern zu detektieren. Noch heute spiele ich Tischtennis. Und genauso wie beim Musikmachen, ist mir die weltpolitische Lage im Moment meiner Aktivität egal. Da vergesse ich sogar den Klimawandel und die Energiewende.
Während die Massentierhaltung, genauer die Rinderzucht keinen unerheblichen Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß hat, was solche Figuren wie der Bundesverkehrsminister Scheuer und sein ebenfalls gescheiterter Vorgänger Dobrindt gerne betonen, habe ich in diesem Zusammenhang noch keine Erwähnung eines Huhns gefunden, selbst in den Kampfblättern der Automobilbranche nicht. Weder ADAC, BMW, VW oder Mercedes erwähnen Hühner, nicht als Umweltsünder und auch nicht als Verkehrsopfer. Rindern wie Hühnern ist aber bestimmt vollkommen egal, was Dobrindt und Scheuer so zu denken glauben. Und eben dieser Devise meiner neuen Freunde möchte ich mich anschließen, ganz so, als sei ich in einem hart umkämpften Tischtennisbattle.


 

Hühner gehören eher auf die Brotseite der Brot und Spiele Ideologie, während Wartime wohl als Spiel betrachtet wird. Begeisterte Spieler berichteten mir früher inmitten meiner Tiraden von der grafischen Welt dieser Spiele und benutzten gerne den Begriff genial. Als freier Journalist war mir grafische Genialität ebenso zuwider, wie meine Lebenszeit für unerkennbare Ziele in einer second-life-Welt zu verplempern. Ich bin kein zielstrebiger geradliniger Machertyp, aber ich beobachte dann doch lieber stundenlang ein Huhn oder eine Waschmaschine beim Rotieren, was ja fast wie ein Kaleidoskop Bilder entwirft, grafisch genial. Was also ist diese monströse digitale Welt? Es wirkt auf mich wie ein selbstreferenter Bereich, der seine Berechtigung in sich selbst sucht und findet, l’art pour l’art sozusagen. Dieser Bereich hat es geschafft nicht nur arme Länder noch ärmer aussehen zu lassen, sondern hat auch einen Generationenkonflikt geschaffen, den es ohne Digitalisierung nicht gäbe. Erst die Generationen der 1990er Jahre kennen keine Welt mehr, die nicht von Nullen und Einsen bestimmt ist. Hier geht es nicht mehr darum, ob Menschen mit Tieren aufwachsen oder wenigstens schon mal einen Wald gesehen haben. Hier geht es darum, dass Tamagotchis gefüttert werden. Nein, nur weil man stattdessen ja auch Hühner füttern könnte, gibt es Wichtigeres als Tamagotchis und die sind ja wohl auch bereits Teil der digitalen Vergangenheit. 

 

Ein wirkliches Problem besteht im Wissensmanagement: Zwar ist der Welt nun nicht mehr der Brockhaus der heilige Graal der Allgemeinbildung, sondern unser aller Freund Wiki, aber die Bewertung, Einordnung und Überprüfung von Quellen wird langsam geopfert. Fast jeder Promi ist virtuell schon mal für Tod erklärt worden und musste sich anschließend öffentlich reanimieren.

Ich muss meine Ausführungen kurz unterbrechen, denn meine Frau hat mich aufgefordert, die Hühner zu holen. Nach einer Reihe intensiver Gespräche mit gut organisierten Hühnerzüchtern hat sie einen Weg gefunden noch heute, jetzt gleich, sofort Hühner zu bekommen:









Da sind sie nun, ein bisschen unsicher verlassen sie die Transportkartons und gucken sich ihr neues Zuhause an. Fast arrogant wirkt die Geste, mit der sie in den Sägespänen wühlen, sie hinter sich wrfen. Ein kleines schwarzes Huhn, offensichtlich der Boss, verschafft sich sofort von der höchsten Hühnerstange im Schuppen einen Überblick. Wir haben uns auf den Namen The Bitch geeinigt. Die Hühnerdame hackte nach uns, als wir sie in ihre Schlafstätte bringen wollten. Nach einigen Besuchen in der Voliere haben wir die Hühner über Nacht in Ruhe gelassen.


Ein echtes Kuriosum war dann noch die Landung der NASA-Sonde Perseverance auf dem Mars. Hat da womöglich die Dystopie auf Erden ein paar Leute dazu bewegt, sich nach Fluchtmöglichkeiten umzusehen? Oder ist das ganz simpel Neugier oder Realitätsverslust?

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