Die Suche nach dem Kick


Noch vor dem Eintreffen der Multikultichicks hat mich mein Alterungsprozess beschäftigt und die damit einhergehenden Defizite. Abgesehen von unzeitgemäßer zunehmender und ungewollter Langsamkeit und Entschleunigung stand da die Nivellierung früherer Anlässe für Adrenalinausschüttungen unfassbarer Größenordnung. Nun will ich nicht behaupten, dass die Hühner unbändige Aufregung auslösen, aber sie sind neu. Sie werden unser Leben verändern. Ich erinnerte mich an meine erste Single von Fats Domino, My Girl Josephine und mehr noch an das Gefühl, dass meine zweite Single bei mir und ganz anders bei meiner Umgebung auslöste: Es war 1973 und John Fogerty von Creedence Clearwater Revival schrie etwa fünfzig Mal am Tag via Dual-Plattenspieler mit integriertem Monolautsprecher Comin’ Down The Road. Ich war glücklich. Er schrie, wie ich schreien wollte, seine Gitarre schrie und das Cover der Single zeigte mich oder vielmehr mich, wie ich mich sehen wollte. Ich posierte mit dem Federballschläger vor dem Spiegel. Ich war ein Rockstar und ich schwitzte vor Aufregung und Adrenalin. Räuber Hotzenplotz hatte ausgedient, John Fogerty hatte übernommen. 

 


Im Schalloch in Hamburg kaufte ich meine erste Gitarre, lernte in den folgenden drei Jahren meine ersten drei Akkorde, obwohl die Schmerzen unerträglich waren. Zwischenzeitlich posierte ich zur Erholung immer noch schweißgebadet mit dem Federballschläger vor dem Spiegel und spielte auch mit meinen Freunden Rockstar. Ich war aufgeregt, alles war neu. Ich war begeistert und durstig – physisch und metaphysisch. Zwar blieben die Impulse, die meine Eltern mir boten immens, aber die Aufregung von Comin’ Down The Road kehrte nicht mehr zurück. Schallplatte um Schallplatte wuchs meine Sammlung und rund Tausend Platten später kaufe ich manchmal Alben und höre sie erst Tage später.

 

Bei Gitarren ist es ähnlich. 1985 bekam ich meine Traumgitarre, eine schwarze Gibson Les Paul Custom. Die Euphorie, das Adrenalin waren unfassbar. Tag und Nacht war sie bei mir die Black Beauty. Und ein paar Jahre hielt der Traum sein versprechen. Ich war treu, aber dann kam der Wunsch nach Diversität, es kam eine Telecaster, eine Stratocaster und viele, sehr viele Gitarren mehr. Bis heute kaufe und verkaufe ich Gitarren, Verstärker, Effektgeräte, suche tagelang den perfekten Ton und Ende immer bei meiner allerbesten Gitarre, der schwarzen Gibson Les Paul Custom und meinem ersten richtigen Gitarrenverstärker, einem MusicMan, den ich bereits 1980 geschenkt bekommen hatte, nachdem ich eine ganze Batterie von Röhrenradios vom Sperrmüll in Serie geschaltet hatte und mit einem großen Knall nebst Stichflamme zur Selbstauflösung bewegt hatte. Da war auch so ein Schub Adrenalin, weniger euphorisch, eher von Angst bestimmt. Und die Sammelwut bei Gitarren und Schallplatten war immer auch von einem Schuldbewusstsein begleitet, dem Gedanken, mir das gar nicht leisten zu können, auch wenn ich längst jede Gitarre mit meinen Gigs bezahlt hatte. Ich hätte ja auch etwas zu essen kaufen können.


Dieser Prozess wiederholte sich dann noch bei Büchern und Füllfederhaltern. Und immer gab es da einen Höhepunkt, einen Zenit, den ich, ohne inne zu halten überschritt, um mich fortan der Beliebigkeit hinzugeben, die die Diversität so mit sich brachte – der Montblanc und Huckleberry Finn. Nun könnte man mich für einen ungehemmten Konsumenten halten und läge sicher auch irgendwie nicht falsch, aber auch schon seit Jahren begleitet mich das diffuse Gefühl, dass da etwas nicht richtig läuft. Da ist nicht nur dieses akute schlechte Gewissen im direkten Zusammenhang mit dem Konsum. Längst hat der Gedanke der Reduktion, der Besinnung aufs Wesentliche überhand genommen.

 

Bei der Suche nach dem ultimativen Kick spielen Hühner eher eine untergeordnete Rolle. Es drängt sich aber der Kalauer auf: Die Suche nach dem ultimativen Pick. Und wenn man schon dabei ist, der ultimative Klick. Schon ist man bei Tennessee Williams und der Katze auf dem heißen Blechdach. Trank Paul Newman als verkappter Schwuler umgeben von No-Neck-Monstern nicht pausenlos, um den Klick zu erfahren, die innere Ruhe zu erlangen, um zu vergessen? Waren da eigentlich auch Hühner auf dem Hof des Cotton Farmers, gespielt von Burl Ives oder nur das heiße Chick Elizabeth Taylor? Und dann ist da ja noch Jack Nicholson als Anwalt in dem Film Easy Rider. Wann immer er einen Schluck aus seinem Flachmann nimmt, schlägt er mit dem Flügel und sagt „nick nick nick“. Ist also Alkohol der Weg zum ultimativen Nick oder Klick oder Kick oder gar, sich zu fühlen wie ein Huhn beim ultimativen Pick?

 

Jedenfalls hat sich für mich die Suche nach dem ultimativen oder auch nur dem nächsten Kick als Irrweg herausgestellt: Comin’ Down The Road ist nicht zu toppen! Und viel wichtiger ist wohl die Entdeckung, dass dieser ultimative Kick gar nicht das Ziel sein kann. Je früher man sich mit Gleichmut den Dingen nähert, die Erwartungen reduziert, desto größer sind die Möglichkeiten positiv oder negativ überrascht zu werden. Das Huhn etwa findet immer wieder ein Korn, hat aber bestimmt Momente, in denen es auf ein ganzes Lager trifft oder auf besonders wohlschmeckende und nahrhafte Körner. Aufgeregt ist das Huhn jedoch relativ gleichbleibend, vermute ich. Denn noch sind ja keine Hühner da. Wobei mich derzeit der Verdacht beschleicht, dass in meiner direkten Umgebung eine Metamorphose stattfindet. Wird meine Frau zum Huhn? Sätze wie „ich brauche Herbstlaub“ kommen spontan und locker über ihre Lippen, ganz so als sei es nicht das Gegenteil dessen, was sie seit unserem Umzug aufs Land von sich gab. Bisher wurde Herbstlaub bekämpft. Ich beobachte das weiter, allerdings auch ein bisschen besorgt.



Viele Jahre lebte ich in Hamburg, meiner Geburtsstadt. Kaum ein Fleck auf Erden ist so von Eitelkeiten geprägt, wie die Stadt der Pfeffersäcke. Hier hatte schon in der Nachkriegszeit der berühmte Sprössling einer Pfeffersackdynastie, der Autor Hans-Erich Nossack befunden, „Es ist unmöglich, zugleich Hamburger und geistiger Mensch zu sein. Das sind unvereinbare Dinge.“ Hier trägt man die gesteppte Jägerjacke und fährt sein Kind mit dem SUV zum Kindergarten und das ist kein Klischee, sondern Realität. Beim Wochenendhaus auf dem Lande begegneten mir Kühe, Karpfen und Hühner, die Luft war weniger greifbar, dafür durchaus einzuatmen. Die überaus teure gestapelte Wohnweise wurde mit jedem freien Tag auf dem Lande absurder, die Eitelkeiten und der ewige Wettstreit unerträglicher. Luft-, Licht- und Lärmverschmutzung, unbegreiflich, warum man sich jahrzehntelang freiwillig diesem Stress ausgesetzt hatte. Es folgte der Ruf des Huhns.

 

Vielleicht war es die Mülltrennung, die den Ausschlag gegeben hat. Alles was man aß, erreichte die Dachgeschosswohnung eingeschweißt, versiegelt und konserviert, selbst das Gemüse war eitel, makellose Cherrytomaten in kleinen Eimerchen, Gurken die sich nicht mehr mit der eigenen Schale gegen Umwelteinflüsse schützen durften, sogenannte Flugpapayas. Es gab prall gefüllte Fleischkühlregale mit Hühnern in Pappschalen auf denen Wiesen abgebildet waren, die die toten Fleischklopse nie gesehen hatten. Es ging nicht mehr, 17-jährige Schulmädchen, denen die Eltern die Brust-OP bezahlt hatten, zogen an einem vorbei, während man selbst täglich das neue eigene welke Fleisch betrachtete, manchmal lachend, aber häufiger peinlich betroffen. In der Eckkneipe erzählte man sich die Geschichten der glorreichen Vergangenheit, von Erlebnissen, von Erlebtem, trank bis zur Besinnungslosigkeit, bis zum Vergessen und bezahlte, bezahlte und bezahlte. Zwar stand alles zum Konsum bereit und auch das tagesaktuelle Geschehen in der Welt war greifbar, aber kein lebendiges Huhn keine lebende Kuh. Überall in der Welt verursachte der Mensch Katastrophen, Twin Towers, Fokushima und dazu das A-Team. Wer das hinterfragte war ein Müsli, ein Öko, ein Weichei oder eben in der heutigen Gegenwart ein Gutmensch. Wer ein von Abstraktion geprägtes Thema besprechen wollte, Politik, Geschichte oder Zukunft war ein Trottel oder bekam das Label arrogant aufgedrückt.


Die gelebte Dystopie ist zwar auf dem Lande auch spürbar, wann immer man Menschen begegnet, nur passiert das eben seltener. Und vielleicht sind Hühner ja bessere Gesellschaft? In jedem Fall machen Hühner nur das, was sie wissen, was sie können, sie haben keine Religionen, beten nichts Abstraktes oder Absurdes an. Hühner opfern nichts und niemanden, sie werden geopfert. Sind sie vielleicht rationaler als der Mensch? Bestimmter sind sie bestimmt. Sie suchen nicht Bedeutung, sondern Futter. Meine Frau und ich legen schon sehr lange großen Wert darauf, nicht mehr so große Müllproduzenten zu sein, freuen uns richtig wenn es von Monat zu Monat weniger wird, was wir in die vier Tonnen kippen. Und Hühner sind, so sagt meine Frau, Resteverwerter, sozusagen fliegende Schweine, wenngleich sie auch nicht wirklich fliegen. Toll wäre natürlich auch, wenn sie unseren Leergutvorrat dezimierten, den wir dauernd zum Altglas schleppen müssen. Aber ohne den wäre es mir nicht möglich gewesen zu überprüfen, ob Jack Nicholson im Easy Rider zum Huhn wird oder was Paul Newman mit dem Klick meint. Und weil man so schnell vergisst, wenn sich die Flasche leert, muss man ja auch wieder von vorne anfangen und Ärzte, Apotheker, Krankenschwestern und Ernährungsberater sagen ja auch am laufenden Meter, man solle viel trinken. Allerdings habe ich, mich vom Newmanschen Klick befreiend, den Weg zum Kefir gefunden, ein wohlschmeckendes brauseartiges Getränk, dass ich mir täglich frisch ansetze. Sehr gut ist der Kefir für mich, wenn ich zu lange Deutschlandfunk gehört habe, in den Nachrichten gesagt wird, dass die Corona-Zahlen nun wieder leicht ansteigen oder sich zwischen 10 und 12 Uhr am Vormittag die Stimme des Volkes einmischen darf. Das ist dann ein bisschen wie auf den Redaktionsfluren bei Frauenzeitschriften oder wie ich es mir im Hühnerstall vorstelle. Früher hätte mich Whiskey oder Rum vor den Folgen des Radiogenusses schützen können, heute bekämpfe ich die Symptome mit Kefir.

 

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