Geflügelwürstchen


 

Als meine Frau draußen im Nieselregen das Solarpanel für die Hühnerklappe ausrichten wollte, fragte sie: „Wo ist die Sonne?“ und meinte das wohl nicht wörtlich. In Anbetracht der tropischen Sommer, die wir zuletzt hatten, hat sie das Hühnerhaus im Hühnerhaus so ausgerichtet, dass kein Fenster zur Sonne guckt und so den Stall unnötig erhitzen könnte. Gerade hatten wir in einem alten Barnaby gesehen wie ein Sonnenstrahl durch ein Kirchenfenster eine Versandkiste in Brand gesetzt hat. Ein fürchterlicher Gedanke mit den Hühnern hinter der Solarklappe.



Durch die Ankunft Hühner hat sich auch ein anderes sehr belastendes Thema relativiert: Der Blick in die Zukunft. Hühner schauen so wenig in die Zukunft, wie Politiker. Sie leben im Hier und Jetzt und organisieren die Gegenwart. Ein deutscher Politiker riet sogar Menschen mit Visionen den Gang zum Arzt. Darüber sind Hühner vollkommen erhaben und ich will davon lernen. Keinesfalls möchte ich mehr Joni Mitchells Big Yellow Taxi hören oder John Prines Paradise als Mahnung verstehen. John Prine ist ja auch nach langer Krebskrankheit letztendlich an Corona verstummt.

Oft habe ich mir Gedanken über die Welt in 200 Jahren gemacht, wenn etwa 12 bis 15 Milliarden Erdbewohner, die Hühner mal nicht mitgerechnet, ihre Mobilität ganz neu organisiert haben werden müssen, überall kleine solarbetriebene Drohnen mit und ohne Besatzung durch die Gegend fliegen, Individualverkehr rein geschlechtlicher Natur sein wird und keiner mehr ein Fahrzeug selber steuern kann. Wie wird es sein wenn man auf dem Müll in den Meeren übers Wasser gehen kann? Wohnen die Menschen in Recyclinghäusern und Hütten? Gibt es ein vereinigtes Europa? Wird Gier durch Liebe ersetzt sein? Was trinken die Menschen und Hühner, wenn das Wasser verseucht ist? Das alles braucht ja Konzepte und Starthilfe. Bisherige politische Konzepte und Starthilfen scheinen mir da befremdlich reaktionär, wobei ja der Zustand der kompletten Wasserverseuchung auch noch nicht erreicht ist. Da geht noch mehr. Und auch das Spiel der Gier ist noch nicht am Ende. Die letzten global Player sind noch am Spieltisch und buhlen um die Hotels in der Schloßallee.

Allerdings gibt es schon zahlreiche Modelle für Recyclingbehausungen in verschiedenen afrikanischen Ländern und Städten wie Lagos oder Pretoria, ausgezeichnete Entwicklungen sind in südamerikanischen Ländern zu sehen Favelas in Brasilien machen überall auf dem Kontinent Schule. Da sind wir in Europa mit den Vorstadtbauten von Paris oder „sozialen“ Brennpunkten in Hamburg und anderen Großstädten noch weit hinterher. Allerdings ist es bei uns ja auch noch nicht so warm. Den Hühnern in den Favelas geht es übrigens meistens bis zu ihrem plötzlichen Ableben besser als ihren europäischen Artgenossen auf dem Wiesenhof.

Bis wir aber in Europa raus haben, was die Brasilianer alles richtig machen, haben wir wenigstens in der Politik noch Wortfindungsschwierigkeiten oder zumindest Begriffsklärung nötig. Es gibt zahlreiche Politiker jeglicher Couleur, die die Begriffe sozial und wirtschaftlich nicht unterscheiden können. Da werden schonmal große Gemeinschaften armer Menschen als sozial schwach bezeichnet, dabei sind sie ja eigentlich nur wirtschaftlich schwach und haben oft ein starkes soziales Gefüge. Wirtschaftlich starke Bankenchefs, wie etwa bei der HSH-Nordbank oder aktuell der Hamburger Privatbank Warburg leiden an sozialer Inkompetenz, werden aber von der Politik niemals so bezeichnet, sondern hofiert. Während ich das schreibe wird mir deutlich, dass diese Seilschaften natürlich auch starke soziale Bindungen repräsentieren. da helfen keine Cum-Ex-Skandale, keine Panama- oder Paradise-Papers, der Zusammenhalt ist hart wie Kruppstahl und kein Huhn hackt dem anderen ein Auge aus.

Und auch Aktienmarkt und Politik stehen fest Seite an Seite. Der Ruch der Aktie demjenigen Gewinn auf Kosten desjenigen zu bringen, der dafür arbeitet, ist mit der Börse vor Acht  in der ARD in Vergessenheit geraten. Und wenn wir uns jetzt doch alle an der Wette gegen die Arbeitnehmer beteiligen können, warum sollte man die Gewinne dann besteuern und somit sozialisieren? Na gut, in ein paar Jahren, wenn alle Europäer mitmachen, nehmen wir mal irgendwas zwischen 0,2 und 2 Prozent. Das ist dann ja eine mächtige Umverteilung im Sinne aller und der Aktienbesitzer merkt es gar nicht wirklich. Eine echte Win-Win-Situation, fast wie bei meiner Frau, den Hühnern und mir, wo es ja eine Win-Win-Win-Situation ist. Und wenn ich mich mehr den Hühnern angleiche, ist mir das soziale oder wirtschaftliche Geschehen vielleicht auch ein wenig gleichgültiger. Ich eiere dann von Korn zu Korn.

Vielleicht finde ich dann ja auch, dass der Würstchen-Uli mit 30 Millionen Steuerhinterziehung ein netter Kerl ist, immerhin hat er sich selbst angezeigt und die Schuld bezahlt. Oft sieht man ihn jetzt fast alleine in seinem Stadion oder seiner Halle sitzen. Traurig wirkt er, wenn er seinen Kickern oder seinen Basketballern zuschaut. Vielleicht denkt er wehmütig an die Zeit zurück als er noch Freunde und Freigang hatte. Aber er kann sich ja hinterher mit einem seiner Geflügelwürstchen trösten. Bisher aber dreht es mir den Magen um, wenn ich vernehme, dass da Steuerhinterziehungsdaten-CDs von Landesvätern erworben wurden, obwohl das unrechtmäßig ist. Zum Glück leben wir in einem freien Land und so wurde den Steuerhinterziehern die Gelegenheit zur vollkommen freiwilligen Selbstanzeige gegeben. So entging auch der Landesvater seiner gerechten Strafe. In weniger freien Ländern wie Mexiko oder Italien wäre das weder für die Journalisten, die das aufgeklärt haben, noch den Politiker so glimpflich abgegangen. Aber wie man so sagt, da kräht ja längst kein Hahn mehr nach. Ist ja auch abgeschlossene Vergangenheit und wird sich auf gar keinen Fall wiederholen. So könnte man also jetzt doch getrost einen Blick in die Zukunft wagen, sich an die Gestaltung einer gerechteren Welt machen, sobald man die Begrifflichkeiten geklärt hat.

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