Hühnermetamorphose

 


Lydia hat beschlossen Glucke zu sein. Ihre Natur gibt ihr das vor. Es ist verbunden mit einem umfassenden Verzichtprogramm. Sie verzichtet auf alle Freiheiten, die die übrigen sieben Damen genießen, nämlich rum zu rennen, zu picken und Wasser zu schlürfen, freche Bemerkungen zu machen, wenn man vorbeikommt. Stattdessen sitzt sie auf Eiern und wartet darauf, dass sich ihr Kinderwunsch erfüllt. Zunächst saß sie auf den unbefruchteten Eiern, die wir gerne essen wollten, dann hat meine Frau diese Eier durch Betoneier ersetzt, aber das Problem der totalen Hingabe, gepaart mit umfassender Selbstaufgabe blieb. Insgesamt hat meine Frau diese Situation drei Tage beobachtet und dann meine Zustimmung eingeholt, dass wir für Lydia befruchtete Eier zum Ausbrüten beschaffen sollten. Gesagt getan: Lydia sitzt jetzt auf Eiern, die sie vielleicht bald befreien. Denn wenn die Kücken geschlüpft sind, wird sie sich wohl um die kümmern müssen oder wollen – keine Ahnung, wie viel ihres Verhaltens Instinkt und wie viel Wille ist.

Parallel zu diesem Prozess haben unsere Tochter und ich erkannt, dass auch meine Frau einer Metamorphose unterliegt, der wir auch äußerlichen Ausdruck verleihen wollten. Eigentlich war es die Idee des erwachsenen Kindes, ich habe mich nur eingebracht, den Plan zu konkretisieren. Und so wurde für einen kurzen Moment aus meiner Frau ein Huhn, als ein Faschingskostüm diesen Schritt ermöglichte. Aber nach der Anprobe hat meine Frau die neue Rolle noch nicht so wirklich für sich angenommen und das Kostüm einfach wieder abgelegt.

Manchmal aber sind ja Metamorphosen auch Entwicklungen, die Befreiungen beinhalten: Gewohnheiten werden abgelegt und Freiheiten wiedererlangt, von denen man völlig vergessen hatte, dass es sie gab. So eine Metamorphose ereilte auch mich, nachdem ich tatsächlich etwa 15 Jahre die Parallelwelt von facebook immer mehr als zunehmenden Teil meiner Realität angenommen hatte. Auf diesem Weg erlebte ich „Freunde“, deren ungehemmt geäußerten Gefühls- und Gedankenwelten und ich konnte alles kommentieren und mir so selbst eine momentane Bedeutung geben, die die Hühner gar nicht verstehen würden. Oft habe ich mich geärgert und war hin und her gerissen, ob ich denn das alles überhaupt wissen wollte, denn es waren massenhaft geistige Offenbarungseide dabei, Schlaumeier, die Patentlösungen für das Leben anzubieten hatten, von der Bekämpfung einer Erkältung durch Omas Hausmittelchen, bis zu komplexeren Zusammenhängen, bei denen die Ratgeber zwei journalistische Grundsätze sehr bewusst außer Kraft setzten: Sie schrieben serienweise in der egozentrischen und überflüssigen Ich-Form, ganz so als seien sie gefragt worden, nur fehlte eben der Fragende. Das alleine genügte oft genug zum massiven Fremdschämen und weil Fremdscham nicht reicht, habe ich mich selbst in diesen Selbstdarstellungsapparat eingereiht. Die zweite journalistische Regel ist die der umfänglichen und prüfenden Recherche. Da habe ich mir von berufswegen vielleicht etwas mehr Mühe als andere gegeben, aber ohne darüber nachzudenken, warum ich komplett ungefragt öffentlich vor mich hin Zeug schreibe, auf Anerkennung in Form von Daumen, Herzchen, Emojis mit Tränen etc. wartete und gespannt immer guckte, wer wann was kommentierte, oft war ich mehr bei facebook als bei Recherchen für meine Arbeit. Und wenn ich Momente der Klarheit hatte, facebook zum xten Mal die Regeln zu meinen Ungunsten veränderte, jegliche Persönlichkeitsrechte aussetzte, Datenschutz ad absurdum führte, mich mit Werbeangeboten beballerte und obendrein meine „Freunde“ per Algorythmus immer weiter ins Unsichtbare entschwinden lies, dann hatte ich ja ein paar gute Gründe, weiter dabei zu bleiben.

Meine Band Doctor Love Power hatte 3000 „Fans“, mein Buchverlag der Voodoo Verlag hatte „Fans“ und ich konnte alle diese „Freunde“ erreichen, konnte Gigs für die Band über facebook buchen etc. Eigenartig allein war, dass da zwar 3000 „Fans“ waren – viel mehr als bei den meisten Barbands, die in den gleichen Clubs spielten. Ein Grund stolz zu sein? Nun ja, zu unseren Konzerten kamen via facebook kaum irgendwelche dieser „Fans“ und auch CDs oder Bücher verkauften sich nicht merklich besser durch facebook. Aber ich wollte – wie beim Roulette im Casino – nicht aufgeben. Vielleicht kommen ja alle 3000 zum nächsten Gig, diesmal war ja das Wetter viel zu gut oder viel zu schlecht, es gab Fußball in der Glotze … 15 Jahre lang habe ich wöchentlich viele Stunden in dieser peinlichen Parallelwelt verbracht, meine Bedeutung gesucht und mich oft meiner selbst geschämt. Vor ein paar Tagen dann kam wieder eine Meldung zur Regeländerung bei facebook und What’s App: Zugriff aufs Adressbuch, Austausch der Daten, perfektionierte Werbeangebote und ein neues Shop- nebst eigenem Zahlungssystem…

Meine Frau hatte lange vor der Metamorphose zum Teilzeithuhn facebook für sich als Zeitverschwendung erkannt und sich sang- und klanglos abgemeldet. Auch sie hatte ein paar hundert „Freunde“ bei facebook und jetzt hatte sie Zeit: Das Telefon klingelte nicht häufiger und offensichtlich interessierten sich diese „Freunde“ alle gar nicht wirklich für meine Frau? Ich pendelte zwischen Mitleid und der dumpfen Ahnung, dass es auch mir so gehen würde, wenn ich den Schritt wagte, meinem realen Leben wieder zu begegnen, ohne Fotos oder Videos von mir selbst ungefragt an den Mann, die Frau zu bringen. Jetzt werde ich es bald erfahren, denn vollkommen spontan habe ich nach Jahren endlich What’s App, facebook und ich hoffe, auch Instagram ersatzlos gelöscht. Eine erste schockierende Erkenntnis habe ich schon gewonnen: Es war ein absoluter Suchtmechanismus, denn jetzt muss ich die gewonnene Zeit mit anderen anfüllen und bin entsetzt, wie viel Zeit und wie viele Optionen sich mir bieten. Vielleicht versuche ich mich jetzt auch mal als Huhn? Es wäre zumindest nicht weniger bedeutsam als die vergangenen 15 Jahre bei Mark Zuckerberg.

PS: Wer möchte, kann mich gerne per Telefon, Brief, Postkarte oder Email erreichen. Meine Band hat eine eigene Website, www.doctor-love-power.com, der Verlag auch: www.voodoo-verlag.com und meine Frau bietet Massagen für gestresste Bedeutungssucher bei facebook, aber auch Leute an, die einfach nur Entspannung suchen: massage-am-see.com

Kommentare

Beliebte Posts